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Orpheus‘ Magie in der Elbphilharmonie

Orpheus' Gesang wirkt magisch auf Tiere_Bild von Videoanimation

Teil 4 Talfahrt zum Zimmer mit Aussicht

Was für eine Komödie wäre diese Welt, wenn man nicht selber eine Rolle darin spielen müsste.
                                                                                                                                               Denis Diderot

Am frühen Nachmittag kehre ich erschöpft zum Hotel zurück. Ich hoffe, dort irgendwo in Ruhe auf mein Zimmer warten zu können. In der Lobby ist deutlich mehr los als am Morgen, ein stilles Plätzchen zu finden dürfte schwierig werden. Ich schleiche mich an ein paar Plakataufstellern vorbei zu einem Sessel, schaue mich fragend um, weiss nicht recht, ob ich mich dort hinsetzen darf. Ich habe offiziell schon eingecheckt, also bin ich bereits Gast des Hotels, oder? Bezahlt habe ich alles, sachte setze ich mich auf die Kante des Sessels, doch keine Minute später stehe ich wieder auf. Diese Sitzgelegenheit ist entsetzlich unbequem, viel zu weich! Mein Rücken schmerzt von der extremen Anspannung, mein Workout musste ich heute, wegen der frühen Abfahrt, auch ausfallen lassen, da geht so ein Sessel gar nicht. Etwas weiter hinten am Fenster, dicht an der Rezeption stehen Ohrensessel, die scheinen meinen Bedürfnissen eher entgegenzukommen, zumal man sich in ihnen besser verstecken kann. Wie komme ich da unauffällig hin? In einem absurden Slalom gehe ich um die einzelnen Sitzgelegenheiten herum, um direkten Kontakt zu Plätzen zu vermeiden, auf dem bereits Leute sitzen, damit mich keiner sieht. Natürlich glühen meine Wangen jetzt wieder, warum kann ich nicht unsichtbar sein?! Am Ohrensessel direkt am Fenster angekommen, lege ich erleichtert meinen Rucksack ab. Oh ja, dieses Polstermöbel ist viel besser, müde lehne ich mich zurück und schaue auf mein Smartphone, 14:05 Uhr. Jetzt dauert es hoffentlich nicht mehr lange, bis mein Zimmer fertig ist. Ich rutsche noch ein paarmal auf dem Sessel hin und her, bis ich eine Sitzposition finde, von der ich glaube, dass sie die geringste Sichtbarkeit bietet. Ich muss meinen Ohren eine Pause von den In-Ear Kopfhörern gönnen und irgendwie ohne Musik auskommen, also versuche ich mich auf mein Buch zu konzentrieren, doch die Müdigkeit macht es mir nicht leicht. Immer wieder prüfe ich die Zeit, die einfach nicht vergehen will.

Die Chance auf einen früheren Check-in?

Plötzlich höre ich hinter mir eine Frauenstimme eine Frage stellen, die mir ebenfalls auf der Seele brennt: „Hallo, ich wollte fragen, ob mein Zimmer vielleicht schon fertig ist?“ Eine Leidensgenossin, ich bin gespannt auf die Antwort und beuge mich sachte Richtung Rezeption, schiele an der Sessellehne vorbei und sehe zwei Damen an der Rezeption stehen. Hm, von hinten sieht die eine Regula Mühlemann ähnlich. Die andere Dame dreht ihren Kopf in Richtung der ersten, es ist Elena Galitskaya. Die Rezeptionistin sagt: „Ich schau gleich mal nach. Wie ist Ihr Name?“ „Mühlemann“. Nervös ziehe ich mich wieder in meinen Sessel zurück, fühle mich irgendwie ertappt. Doch dann huscht ein Lächeln über mein Gesicht, ich muss an die Oper denken, deshalb bin ich ja hier und es ist schön, zu wissen, dass Euridice und Amor auch eingetroffen sind. „Ja, Frau Mühlemann, ihr Zimmer ist fertig.“ Da auch ich sehnsüchtig auf diesen Satz warte, kann ich das nicht überhören. Euridice freut sich und drückt Amor die Daumen für dessen Zimmer. Es ist 14:22 Uhr, gut eine halbe Stunde früher aufs Zimmer zu können, ist nicht ungewöhnlich, soll ich auch fragen? Bei dem Gedanken spüre ich ein starkes Ziehen in der Magengegend. Mir wurde gesagt, sie rufen mich an, aber das sagen sie bestimmt allen Gästen. Ich bin hin und her gerissen, habe grosse Angst an die Rezeption zu gehen und zu fragen, andererseits ist die Erschöpfung kaum noch auszuhalten, ich möchte so gerne auf mein Zimmer. Zwölf Minuten lang überlege ich, bis ich schliesslich meinen ganzen Mut zusammennehme und auf wackligen Beinen zum Tresen tripple. Mein Herz rast, das Atmen fällt schwer. Die Rezeptionistin, die Regula Mühlemann bedient hat, ist besetzt, ihre Kollegin neben ihr schaut mich recht grimmig an. Ich versuche, den dicken Kloss in meinem Hals runter zu schlucken und frage leise, ob evtl. mein Zimmer schon fertig sei? Ich verschränke meine Arme vor meinen Bauch, um das Zittern zu verbergen, meine Hände sind zu Fäusten verkrampft. Die Dame sieht nach, aber ich habe nicht so viel Glück wie die Sopranistin. Gereizt sagt sie mir: „Sie sind etwas früh, Check-in ist offiziell um 16 Uhr.“ „Oh, das tut mir leid, auf meiner Reservationsbestätigung steht 15 Uhr“, entgegne ich verunsichert. „Entschuldigen Sie“, schicke ich schnell hinterher und will mich schon wieder zum Ohrensessel zurückziehen, als sie sagt: „Ich kann Ihnen einen Getränkegutschein für die Bar geben, dann können Sie dort warten“ und schiebt mir eine Karte über den Tresen. Entsetzt starre ich den Gutschein an. Sie meint es ja gut, aber das ist für mich tatsächlich noch schlimmer als in der Lobby zu warten, alleine in die Bar gehen, eine grauenvolle Vorstellung. Doch den Gutschein abzulehnen, wäre sehr unhöflich. Die Rezeptionistin sieht mich erwartungsvoll an, so nach dem Motto: Immer noch nicht zufrieden?! „Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank.“ Ich hoffe, dass sie nicht bemerkt, wie meine Hand zittert, als ich den Gutschein nehme.

Tea time im Aquarium

„Die Bar ist gleich hier um die Ecke“. Hoffentlich ist dort um die Ecke auch ein Platz, wo ich mich so lange verstecken kann, bis sie mich anrufen und ich nicht in die Bar muss. In meinem Kopf rauscht es wieder wie verrückt, die Ohren klingeln, mir ist schwindlig, mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich 40° Fieber, ich spüre, wie Tränen aufsteigen, die ich vehement runterschlucke. Verzweifelt schleppe ich mich um die Ecke, während ich hilflos den Gutschein anstarre, als ich beinahe in Regula Mühlemann stolpere, die just im selben Moment wie ich, dynamisch von der anderen Seite um die Ecke kommt. Ach herrje, das hätte gerade noch gefehlt, dass ich der Prima Donna des morgigen Abends auf die Füsse trete. Erschrocken drücke ich mich schnell an die Wand und schiebe mich mit einem entschuldigenden Lächeln und einem kaum hörbaren Berndeutschen „ägsgüse“ an der Sängerin vorbei. Regula Mühlemann erwidert mein Lächeln und geht, glücklicherweise unbeschadet, Richtung Lobby. Vollkommen erledigt, bleibe ich stehen, dieser Tag ist so anstrengend. Nein, hier gibt es kein Versteck, ich stehe in einem eher schmalen Gang, geradeaus der Eingang zur Bar, wo ein unfreundlich wirkender Herr mich und meinen Gutschein abschätzig betrachtet. Ich sitze in der Falle, wenn ich umdrehe, gerate ich zwangsläufig wieder ins Blickfeld der angesäuerten Rezeptionsdame, gehe ich in die Bar, bin ich den demütigenden Blicken dieses Kellners ausgesetzt. „Help! I need somebody!… Help me if you can, I’m feeling down. … Help me get my feet back on the ground.“ … Wenn ich keine Musik auf den Ohren haben kann, aber wegen einer unbekannten Umgebung auch gezwungen bin, nicht zu stark zu dissoziieren, dann springt meine innere Jukebox an. Mit dem Beatles Hit in meinem Kopf gehe ich langsam ein paar Schritte weiter in Richtung Bar. Je näher ich dem wartenden Herrn komme, umso unfreundlicher wirkt er auf mich, er ist definitiv nicht begeistert mich oder den Gutschein zu sehen. Mozarts Tamino löst die Beatles ab „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren, der listigen Schlange zum Opfer erkoren.“ Die ersten schnellen, bedrohlichen Takte dieser Arie schnüren sich um meinen Brustkorb. Mit gesenktem Blick kämpfe ich mich weiter vor, Tamino fleht: „Ach rettet mich! Ach schützet mich!“ „Sie wollen den Gutschein einlösen?“ Ich könnte schwören, er hätte leise ein verächtliches Schnauben von sich gegeben. „Man sagte mir an der Rezeption, ich solle hier auf mein Zimmer warten“, gebe ich ihm zurückhaltend zur Antwort, muss aber zugeben, dass seine arrogante Art mir etwas missfällt. Die Idee mit dem Gutschein ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich gebe mir grosse Mühe, mich aufrecht hinzustellen und mir meine Angst und Scham nicht anmerken zu lassen, was aber sicher nicht zu übersehen ist, wenn mein Gesicht so aussieht, wie es sich anfühlt. „Folgen Sie mir.“ Der Kellner führt mich zu einem Zweiertisch direkt zwischen Theke und Fenster zur Plazaterrasse. Immer wenn ich denke, es kann nicht noch schlimmer werden. … Hier hat man ungefähr so viel Ruhe und Privatsphäre, wie zur Rushhour am Hauptbahnhof. Ich würde am liebsten weinend und schreiend davonrennen, setze mich aber mit der, in diesem Moment, grösstmöglichen Eleganz und Gelassenheit an den Tisch. Ich spüre die Blicke eines zweiten Herrn in meinem Rücken. Er steht an der Theke und räumt Gläser ins Regal. Kellner Nr. 1 glotzt mich fragend an. „Ich hätte gerne einen Pfefferminztee“, sage ich betont freundlich. Er rauscht ab. Ich komme mir vor, wie ein Tier im Zoo. Die Leute, die draussen herumlaufen, schauen natürlich auch immer wieder in die Bar. Man sitzt hier regelrecht auf dem Präsentierteller, für mich ein Horrorszenario. Ich muss mich ablenken und hole mein Smartphone raus. Einige Freundinnen und meine Mutter haben Nachrichten geschickt: Bist du schon auf dem Zimmer? Wie läuft es? Schon Fotos gemacht? Während ich meinen Tee trinke, bringe ich alle auf den neusten Stand.
Plötzlich ein Anruf, eine deutsche Nummer, zitternd nehme ich an, telefonieren mit Fremden löst bei mir immer Panik aus. „Hallo, ich wollte Bescheid sagen, dass Ihr Zimmer fertig ist.“ „Grossartig, ich komme; vielen Dank für Ihren Anruf!“

Ein lebhafter Sprechbariton kitzelt meine Synapsen

Endlich, ich schaue auf die Uhr, 15:24 Uhr. Ich trinke den Tee aus und mache mich auf den Weg. Wieder eine Nachricht meiner Mutter, die kommt mir ganz gelegen, so kann ich mich kurz und knapp von dem mürrischen Kellner verabschieden. Eine Nachricht tippend, gehe ich Richtung Rezeption. Meinen Blick auf das Display gerichtet, sehe ich im Augenwinkel, dass Personen vor mir bei der Rezeption warten. Ich bleibe in gebührendem Abstand stehen und schreibe weiter, die frohe Nachricht interessiert alle. Ich höre zwei Männerstimmen vor mir, sie sprechen eine slawische Sprache. Ich finde Sprachen total spannend, kann aber leider keine slawische Sprache. Es spricht vor allem einer und dies sehr lebhaft. Mein Gehirn lechzt nach einer Aufgabe, die Spass macht und mich dadurch entspannt, den ganzen Tag nur Krisenbewältigung, das gefällt ihm nicht, also versucht die eine Hälfte zu erraten, welche Sprache es ist, während sich die andere auf die Textnachrichten konzentriert. Nach und nach kommt ein Gefühl der Vertrautheit auf, warum? Nur so ein flüchtiger Gedanke? Ich verstehe ja kein Wort, ist es diese Sprechstimme, die ich höre? Welche Sprache könnte das sein? Im Augenwinkel sehe ich die Schuhe und unteren Hosenbeine der Herren vor mir und da blitzt etwas Gelbes auf, während ich die letzten Worte tippe. Die Farbe weckt ebenfalls meine Neugier, ich schaue nochmals hin und sehe einen gelben Kabinentrolley. Ich muss schmunzeln, das ist wohl jemand, der viel reist und keine Lust hat ständig seinen Koffer unter all den anderen Schwarzen, Blauen und Grauen zu suchen; in der Farbe hat man das passende Gepäckstück schnell gefunden. Hm, Russisch ist es nicht, das klingt anders? Tschechisch? Nein, das habe ich auch anders im Ohr, aber ich höre nicht oft slawische Sprachen. Polnisch oder Ukrainisch vielleicht? „Senden“, die letzte Nachricht ist raus, da kriege ich plötzlich einen riesigen Schreck. Mir dämmert es, woher dieses vertraute Gefühl kommt. Ich glaube, das ist eine Stimme, die ich schon in Interviews gehört habe. Mein Puls beschleunigt rasant, ich halte den Atem an und schiele ganz vorsichtig nach vorne. Der schweigende Herr steht mit dem Rücken zu mir, doch der Zweite ist ihm seitlich zugewandt. Ich weiche einen Schritt zurück; trotz Sonnenbrille und Mütze bin ich mir zu 99% sicher, da steht, knapp 2m vor mir, Jakub Józef Orliński. Ich rücke noch ein bisschen weiter zurück. Das würde mir zu meinem Glück noch fehlen, dass ich, wo ich bei Regula Mühlemann glimpflich davon gekommen bin, nun den Primo Uomo anremple. Am besten bewege ich mich jetzt nicht mehr, ich erstarre zur Salzsäule und versuche unter höchster Anspannung, meine wackligen Beine und die aufkommende Übelkeit unter Kontrolle zu kriegen. Super, jetzt ist es noch schwieriger, an die Rezeption zu gehen und die Schlüsselkarte entgegenzunehmen. Die beiden Herren sind an der Reihe, gehen zum Tresen und der Gesprächige nennt seinen Namen: „Orliński“. In Zeitlupe schliesse ich zur Wartelinie auf, als müsste ich auf Eiern gehen. Die Rezeption hat sich gerade in ein Minenfeld verwandelt, angestrengt überlege ich, wie ich an den zwei Männern vorbei komme, ohne sie oder ihr Gepäck auch nur ansatzweise zu touchieren, falls ich dran bin, bevor sie fertig sind. Die freundliche Rezeptionistin auf der linken Seite wird frei und lächelt mir entgegen. Na schön, jetzt gaaaanz vorsichtig. Ich bin keine tollpatschige Person, ganz im Gegenteil, aber total übermüdet, erschöpft und ständig kurz vor einer Panikattacke, steigt die Wahrscheinlichkeit für ein Missgeschick auch bei mir massiv an. Ich presse meine Arme fest an meinen Körper, halte den Atem an, gehe so weit wie möglich an die seitliche Abgrenzung, um den grössten Abstand zum Rezeptionstresen zu haben, und gleite sachte hinter dem polnischen Countertenor und seinem Begleiter vorbei zur Rezeptionistin auf der anderen Seite. Dort angekommen hole ich erst einmal tief Luft. Geschafft, fürs Erste, wirklich runterkommen werde ich erst, wenn ich im Zimmer angekommen bin. „Sie haben mir Bescheid gegeben, dass mein Zimmer fertig ist“, hauche ich noch etwas ausser Puste von der Drahtseilnummer. „Ja, das hier ist Ihre Schlüssekarte. Sie sind das erste Mal bei uns?“ „Ja!“ „Gut, also dann erkläre ich Ihnen kurz wo alles ist.“ Sie zeigt mir einen Plan auf dem Frühstücksraum, Spa-Bereich etc. zu sehen sind, aber ich kann mich nur schwer konzentrieren, ständig kommt die Stimme Orlińskis dazwischen, die mich daran erinnert, dass ich das hier nun so schnell wie möglich hinter mich bringen und nach oben will.

Für mein Ziel muss ich hoch hinaus

Ich nicke abwesend, während die nette Dame mir die Frühstückszeiten nennt. „So, haben Sie noch Fragen?“ Oh, sie meint mich, los konzentrier dich, jetzt ist absolut nicht der richtige Moment, um sich noch mehr zu blamieren. „Nein, ich denke, ich habe alle nötigen Informationen, vielen Dank!“ „Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Ihr Zimmer liegt in der 19. Etage.“ Was!?! Habe ich das gerade richtig verstanden, wieso ist mein Zimmer so weit oben? Ich sehe sie verdutzt an und frage ungläubig: „Die 19. sagten Sie?“ „Ja, die Fahrstühle sind gleich hier um die Ecke.“ „Dankeschön“, ich nehme die Schlüsselkarte, während ich spüre, dass meine peinliche Gesichtsfarbe sich nochmals intensiviert. 19. Etage, gerade befinde ich mich auf der 8., das sind 11 Stockwerke. Wie um alles in der Welt soll ich bei meinem Erschöpfungsgrad 11 Stockwerke nach oben gehen?! Ich habe schon seit Längerem das Gefühl, mich kaum noch auf den Beinen halten zu können, ich bin seit beinahe 32,5 Stunden wach und habe seit 31 Stunden nichts gegessen. Die zittrigen Glieder sind nicht mehr nur der Angsterkrankung geschuldet. In meinem Kopf springen die Gedanken hin und her, ich versuche fieberhaft abzuwägen, was die einfachere Variante wäre, eine Liftfahrt über 11 Stockwerke auszuhalten, oder mich Etage für Etage zu Fuss hochzukämpfen. Ich bin auf dem absoluten Nullpunkt, eher hoffnungslos schaue ich mich flüchtig nach dem Treppenhaus um, auch hier kann ich es nicht entdecken. Damit hat sich die Frage wohl erübrigt, ich habe keine Energie mehr, mich mit der Suche noch länger aufzuhalten. Vor mir sehe ich drei kleine Fahrstühle. So ein verdammter Mist! Schlimm genug, dass ich heute zum wiederholten Mal in einen Lift einsteigen soll, aber auch noch dieses Format? Super, so geräumig wie eine Sardinenbüchse. Hilflos stehe ich vor diesem gefühlt unüberwindbaren Hindernis. Mein Blick verschwimmt, schnell kneife ich die Augen zu, um die Tränen zu verdrängen, mir ist übel und schwindlig, meine Wangen glühen, mehrere Schweisstropfen gleiten meinen Rücken herab, mein Puls verdoppelt sein Tempo. Der nicht sonderlich sympathische Kellner beobachtet mich wieder. Ich drücke den Knopf, sofort öffnet sich die Tür des Fahrstuhls ganz rechts. Meine Atmung setzt aus, wie in Trance steige ich in den Stahlkasten, die Tastenanzeige blinkt rot, ich halte meine Karte ran und rücke die 19, während ich vorsichtig noch einen Schritt weiter hineingehe und mich mit dem Gesicht zum Ausgang drehe. Boom, die Tür schliesst, der Lift setzt sich in Bewegung. Ich drücke mich an die Seitenwand, meine Hände zu Fäusten geballt, halte ich den Atem an, mein Herz schlägt hart gegen meine Brust. Ich schliesse die Augen, in der Hoffnung so zu vergessen, wo ich bin, und flüstere mir zu: „Das geht ganz schnell, gleich hast du’s überstanden, halte durch, ein- und ausatmen, ein, aus.“…

Es geht steil bergab

Ein leichter Ruck: Oh gut, das ging wirklich schneller als erwartet. Der Fahrstuhl steht, die Tür öffnet sich, ich möchte sofort raus, aber da steht eine blonde Dame im Bademantel im Weg. Erschrocken stolpere ich ein paar Schritte zurück. Verdutzt werfe ich einen kurzen Blick auf die Stockwerkanzeige, als die Dame ein „Hallo“ säuselt. Mit wackelndem Po schiebt sie sich glucksend vor mich in den Lift. Oh nein, nein bitte nicht, hier ist KEIN Platz für noch eine Person!!! Kichernd, die Hüften kreisend, fragt sie mit einem starken Deutschweizer Akzent: „Wo ist der Wellnessbereich? Auf 7?“ Wellnessbereich?!!! Ach ja, das erklärt ihr Outfit. Aber das ist die falsche Richtung! Schnell sage ich ihr in unserer Muttersprache, dass sie sich geirrt hat. Das Sprechen fällt mir schwer, weil ich nun in Panik bin: „Der Lift fährt nach oben, Sie müssen einen anderen nehmen.“ Freudig erregt sucht ihr rechter Zeigfinger die entsprechende Taste, während sie mir gackernd in Züridütsch entgegnet: „Nein nein, das ist schon richtig, der geht runter.“ Die Wellnesslady scheint sich schon ein Gläschen Sekt gegönnt zu haben. Ihr Gekicher und das seltsame Wackeln und Hüpfen treiben mich ihn den Wahnsinn und lassen den Aufzug noch kleiner und enger wirken. Ich flüchte ganz nach hinten, presse mich gegen die Rückwand, mein Rücken ist nun klatschnass, mein Gesicht brennt wie Feuer, alles dreht sich, ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen, mein Brustkorb wird von einem imaginären Eisenkorsett zusammengequetscht, ich schnappe vergeblich nach Luft. Für einen Moment fühlt es sich an, als würde ich ohnmächtig. Bitte nicht, bitte nicht nach unten, das kann nicht sein. „Oder doch 6?“, lachend wirft sie ihre blonden Haare von einer Seite zur anderen. Du darfst jetzt nicht durchdrehen. Ich versuche, mit aller Kraft zu verhindern, dass ich gleich weinend und zittern zusammenbreche. Meine Hände krallen sich an der Seitenwand fest. „Der müsste zur 19. Etage fahren, dort ist mein Zimmer“, stottere ich keuchend, doch Miss Happy ignoriert mich, sie hat wahrscheinlich nur noch Pool und Massage im Sinn. Boom! Die Tür des Fahrstuhls schliesst sich mit einem unnatürlich lauten Knall in meinem Kopf. Nicht nach unten, ich flehe dich an, nicht nach unten. Der Lift setzt sich in Bewegung: Abwärts! Ich verliere den Boden unter meinen Füssen, die Decke und die Wände bewegen sich bedrohlich auf mich zu. Verzweifelt versuche ich, mich in der hinteren rechten Ecke des Aufzugs auf den Beinen zu halten. Ich habe einen Krampf im rechten Arm. Ich bräuchte jetzt ganz dringend Musik, doch meine Kopfhörer sind im Rucksack, dort komme ich nicht ran, denn wenn ich mich nicht mehr gegen die Rückwand presse, falle ich. „Hi, hi, hi“, meine Mitfahrerin kichert voller Vorfreude.

Die Fahrgemeinschaft erhält Zuwachs

Ein erneuter Ruck, der Lift hält, die Tür geht auf und ein Blick auf die Stockwerkanzeige verrät mir, wir sind wieder auf der 8. Etage. Ich muss hier schnell raus, bevor ich mit der Wellnesslady noch weiter nach unten fahre. „Entschuldigung, darf ich hier bitte aussteigen, ich muss doch nach oben.“ Ich möchte mich gerade vorsichtig an ihr vorbei nach draussen schieben, als Jakub Józef Orliński vor dem Fahrstuhl erscheint. Erschrocken weiche ich zurück, mit einem Satz bin ich wieder hinten an der Rückwand und drücke mein schmerzendes Kreuz dagegen, während ich panisch den lächelnden Countertenor fixiere. Mein Herz hämmert gewaltsam gegen meine Brust bis unters Kinn. Irgendeine grausame Macht hat mich scheinbar in einen Fellinifilm katapultiert, das kann doch nur ein abscheulicher Scherz sein. Ich versuche zu lächeln, so sieht man hoffentlich meine Panik nicht gleich auf den ersten Blick. Wenn Orfeo hier auch noch einsteigt, falle ich auf der Stelle tot um und mir sind die Götter nicht so zugetan Euridice, da hilft es nichts, wenn er mit in die Unterwelt fährt. Mein ganzer Oberkörper zittert, ich muss hier raus! Meine Landsmännin macht nun mit ihren Bewegungen einer professionellen Hulatänzerin Konkurrenz und kichert wie ein schwerverliebter Teenie. Orliński dreht den Kopf nach links, ihm wird etwas zugerufen, sein Blick geht nach oben zur Anzeige und er verschwindet wieder von der Bildfläche. Seine Begleitung hat ihn wohl darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Lift nicht nach oben fährt. Jetzt habe ich wieder eine Chance raus zu kommen: „Entschuldigung, ich sollte hier aussteigen.“ Die aufgedrehte Dame hört mich nicht, sie flirtet mit den wartenden Herren: „Hi, hi, ja der fährt runter.“ Sie füllt mit ihrem Gewackel den ganzen Türbereich aus, ich komme nicht an ihr vorbei, ohne sie zur Seite zu schieben, was ich mich nicht traue. „Entschuldigung, darf ich bitte aussteigen?“. Da schliesst sich die Lifttür, wir setzen uns wieder in Bewegung. Bei mir macht sich blankes Entsetzen breit, in tiefer Verzweiflung schleppe ich mich in meine Ecke zurück, ein paar Tränen kullern über meine glühend heissen Wangen. Diese verdammten Ängste! Warum habe ich mich nicht einfach an der Wellnesslady vorbei nach draussen geschoben? Sie ist in ihrem Bademantel gut gepolstert und so überdreht, das hätte sie bestimmt nicht gestört. Ich könnte jetzt in einem Aufzug nach oben sein, warum läuft das so schief? Da fällt mir schlagartig ein: Wenn ich ausgestiegen wäre, dann würde ich jetzt gleichzeitig mit Jakub Józef Orliński auf den passenden Fahrstuhl warten. Laut Hersteller passen hier mehr als 2 Personen rein, das heisst, … Oh nein, bloss nicht dran denken. Ist die Talfahrt mit der Spa-Touristin eventuell doch die weniger beängstigende Variante? Mir fehlt die Kraft, diesem Gedankenspiel weiter zu folgen und jetzt ist es eh zu spät. Meine Beine sind wie Gummi, ich kann mich kaum noch aufrecht halten. Mir kommt es vor, als würde ich schon Stunden in diesem Stahlsarg gefangen sein. In meinem Kopf dröhnt ein ohrenbetäubendes Rauschen, gleichzeitig spielt meine innere Jukebox verrückt, eine Kakophonie aus Trauerliedern, ich kann meinen ultimativen Schutzmechanismus nicht mehr unterdrücken, ich spüre, wie Geist und Körper sich voneinander lösen.
Ein Ruckeln und ein grelles Lachen holen mich aus der Dissoziation. Benommen schaue ich zur Anzeige, das ist die reinste Höllenfahrt, wir sind gerade mal ein Stockwerk weiter unten. Der Fahrstuhl öffnet sich und ich sehe eine scheinbar schlecht gelaunte Hotelangestellte mit Handtüchern bewaffnet. Miss Happy lässt sich davon nicht beirren. „Hallo“ flötet sie, „ist das das Spa?“ „Nein, eins weiter unten“ antwortet die andere knapp und schiebt sie in meine Richtung, um auch einsteigen zu können. Sie wirft mir, dem gequälten Häufchen Elend in der Ecke, einen strengen Blick zu. Ich versuche sie mit einem verzerrten Lächeln zu besänftigen. Die Hotelangestellte ist damit nicht zufrieden, sie beäugt mich wie eine Schwerverbrecherin. Nach gefühlt 1000 Kurzschlüssen in meinem Gehirn, kommt mir eine mögliche Erklärung für ihr Verhalten. Wir sind auf dem Weg zum Wellnessbereich – falls wir dort jemals ankommen – und dafür bin ich mit Sneakern, Jeans, Jeansjacke, Hoodie und Rucksack nicht angemessen ausgestattet. „Es ist etwas schief gegangen, ich muss eigentlich nach oben, aber plötzlich fuhr der Lift wieder nach unten“ versuche ich meine Anwesenheit in diesem Bereich zu rechtfertigen, was mit einem Kichern meiner Landsmännin kommentiert wird. Ein erneuter Ruck verrät uns, dass wir den nächsten Halt erreicht haben. Die Wellnesslady quietscht begeistert, wir haben ihr Ziel erreicht. Mit wackelndem Po hüpft sie raus, hebt die rechte Hand und trällert „Adieu!“, die Hotelangestellte folgt ihr. „Adieu“, keuche ich und schnappe nach Luft.

Fahrt in den goldenen Herbst

Meine Mitfahrerinnen bin ich los, doch als ich nach vorne möchte, um erneut die 19 zu drücken, setzt sich der Aufzug wieder in Bewegung, natürlich abwärts. Mein inneres Schreien und Weinen könnte dieses Gebäude zum Einsturz bringen, ich bin auf immer und ewig in diesem Alptraum gefangen. Federico, es ist Zeit für einen Cut!!! Verzweifelt drücke ich die Taste mit der 19, verbunden mit einem leisen Flehen: „Bitte tu mir das nicht an.“ Der Lift kommt erneut zum Stehen, vor der Tür taucht eine überraschte Dame in Hoteluniform auf. Ich stolpere möglichst rasch nach hinten. „Oh, hallo“, begrüsst sie mich freundlich lächelnd und steigt ein. Ich gebe mir Mühe ebenfalls freundlich zurückzulächeln, um mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen – falls das überhaupt möglich ist – und erkläre meine Anwesenheit in den Katakomben des Hotels: „Irgendetwas hat nicht geklappt, als ich eingestiegen bin, und jetzt mache ich eine kleine Hotelrundfahrt. Ich möchte eigentlich in die 19. Etage.“ Schnell nochmal ein zerknirschtes Lächeln hinterher, Humor soll ja ab und zu helfen, peinliche Situationen aufzulockern. „Warum nicht“, meint sie, „das hat auch was für sich.“ Sie zwinkert mir zu. Puh, Glück gehabt, diese Dame ist wenigstens nicht böse, dass ich in einem Bereich gelandet bin, in dem ich nichts verloren habe. Es geht endlich aufwärts. „Gerade angekommen?“ Ich zucke mit den Schultern: „Ist wohl nicht zu übersehen?“ Die Hotelangestellte lacht: „Sie haben Glück mit dem Wetter, wir kriegen einen goldenen Herbst, für die nächsten Tage ist viel Sonnenschein angekündigt.“ „Perfekt!“ Kauft sie mir die gespielte Lässigkeit ab? Ein Ruck, wir stehen wieder und als sich die Türe öffnet, erkenne ich sofort die Rezeptionsetage. Sie wünscht mir einen schönen Aufenthalt und geht Richtung Bar.
Hektisch hole ich meine Schlüsselkarte aus der Jackentasche, presse sie gegen die Anzeige und drücke mehrere Male nervös auf die 19. Gleichzeitig schiele ich nach draussen, ob da evtl. jemand steht, der schon wieder zusteigen könnte. Jakub Józef Orliński ist hoffentlich schon längst in seinem Zimmer angekommen. Gut, niemand zu sehen. Die Tür schliesst sich und mit geschlossenen Augen flehe ich mein eisernes Gefängnis an, mich endlich, endlich zu meiner Etage zu befördern. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, aufwärts. Meine Erleichterung ist überwältigend, jetzt bitte nur keine Zwischenstopps, bitte, bitte, bitte! Ich stütze mich an der Seitenwand ab, mein Drehschwindel macht sich deutlich bemerkbar. Der Lift fährt leise surrend, unaufhörlich nach oben. Gebannt sehe ich auf die Stockwerkanzeige, 13, 14, 15, ich kann vor lauter Nervosität kaum atmen. Gleich bin ich da, nur noch 2, 1, ja, danke!!! „Komm schon!“ Ungeduldig warte ich, dass die Tür aufgeht.

Zimmer in Elbphilharmonie mit Aussicht über HafenCity

Es kommt mir so vor, als öffnete sie sich in Zeitlupe. Als der Spalt breit genug ist, dass ich durch passe, hechte ich nach draussen. Vollkommen erschöpft gleite ich, angelehnt an der Flurwand, auf den Boden. Mein ganzer Körper schüttelt sich, ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich höre Stimmen, eine Tür fällt ins Schloss. Todmüde richte ich mich auf, suche schnell nach der Richtung meines Zimmers und laufe los. So darf mich niemand sehen und ich kann auch keine weiteren fremden Personen ertragen. Da, auf der rechten Seite ist es, ich halte die Schlüsselkarte ans Schloss, grünes Licht, ich öffne die Tür, ja, da steht mein Koffer, das ist mein Zimmer, endlich! Was für ein Kampf, ein wahrer Kraftakt. Langsam gehe ich weiter ins Zimmer hinein, erst jetzt sehe ich zur grossen Fensterfront, der Ausblick ist, selbst durch den Sonnenschutz, beeindruckend.

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