
Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an,
Dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.
Marie von Ebner-Eschenbach
Ich kann mich an jedes Konzert, jede Oper und jedes Ballett erinnern, das ich besucht habe, aber ein paar dieser Aufführungen sind mir ganz besonders im Gedächtnis, haben einen anhaltenden Eindruck hinterlassen und dazu zählt auch ein Konzert mit Andreas Scholl und Andreas Martin. Damals habe ich zum ersten Mal einen Countertenor live gehört und so diese Stimmlage ganz neu erlebt.
Als ich das Konzert im Programm des Stimmen-Festivals entdecke, bin ich sofort begeistert. Alte englische Volkslieder gesungen von einem Countertenor in Begleitung eines Lautenisten, das ist nicht alltäglich und für mich ganz klar eine einzigartige Gelegenheit, die ich unbedingt wahrnehmen will. Die Aufführung würde in eher kleinerem Rahmen, in einer Kirche stattfinden, dennoch ist es für mich, wie so oft, unmöglich dort alleine hinzugehen.
In meinem Alter interessiert sich niemand für diese Musik
Ich wurde schon als Kind schräg angesehen, wenn ich freudestrahlend zu klassischer Musik „abrockte“. Als Teenie war ich im Publikum bei klassischen Musikdarbietungen meist weit und breit die Einzige meines Alters und auch nun, als frischgebackene Studentin, findet sich in meinem gleichaltrigen Freundeskreis niemand, der mein Interesse für diese Musik teilt.
Aber kein Problem, wozu hat man Eltern? Sie begleiteten mich fast immer in solchen Fällen.
Allerdings sind die beiden nicht so offen für jede Form von Musik, wie ich es bin. Sie haben starke Präferenzen, so ist gleich klar, Mama muss ich nicht fragen, das ist gar nicht nach ihrem Geschmack. Bei meinem Vater besteht eine kleine Chance, vielleicht wird meine Begeisterung und Vorfreude ihn motivieren.
Mein Vater sieht mich entsetzt an, als ich ihn frage, ob er mich begleiten möchte zu diesem aussergewöhnlichen Konzert, wie ich extra betone.
„Wann kriegen wir wieder so eine Gelegenheit, Papa? So etwas wird fast nie aufgeführt, das ist doch toll!“ „Alte Volkslieder, ein Countertenor mit einem Lautenisten?! Nein, das ist nichts für mich, da musst du alleine hin.“ Ja klar, als ob er nicht genau wüsste, dass ich eben dazu meist nicht in der Lage bin. Ich bin sehr enttäuscht, aber es sind noch 2 Monate Zeit bis zum Konzert, vielleicht gelingt es mir, ihn zu überzeugen.
Wo finde ich eine Begleitung?
Ich überlege tage- und nächtelang fieberhaft, ob ich nicht doch irgendjemanden wüsste, der mich begleiten könnte. Ein paar Mal versuche ich noch, meinen Belcanto liebenden Vater umzustimmen, leider vergeblich. Je näher der Konzerttermin rückt, umso mehr wächst meine Enttäuschung, die sich irgendwann zu Ärger und Verzweiflung wandelt. Wieder sind mir meine verdammten Ängste im Weg, diese elende Krankheit, die mir so vieles unmöglich macht. Warum kann ich nicht normal sein? Wenn ich das so sehr möchte, warum schaffe ich es nicht, es einfach zu tun, wie andere auch?! Doch allein die Vorstellung, ohne Begleitung das Konzert zu besuchen, löst Panikattacken aus. Unmöglich, es geht nicht!
Nur noch 2 Tage, es scheint hoffnungslos, aber ich kann mich einfach nicht mit der Tatsache abfinden, dass ich auch dieses Ereignis verpassen würde, wie schon so viele in meinem Leben. Der einzige Vorteil: Das Konzert ist „speziell“, oder ungewöhnlich und ist deshalb, im Gegensatz zu den grossen, beliebten Popkonzerten mit all den internationalen Superstars, selbst so kurz vor Beginn, nicht ausverkauft.
Die Lösung wohnt so nah
Als ich am späten Nachmittag nach Hause komme, ist unsere Nachbarin und Freundin Marianne zu Besuch. Ich begrüße sie mit Trauermiene: „Was ist denn mit dir?“, fragt Marianne, „du siehst gar nicht glücklich aus.“ „Sie will an ein Konzert mit alten englischen Volksliedern, nur Countertenor und Lautenist“, lacht mein Vater und verzieht dabei theatralisch das Gesicht. „Ja und?“ Marianne sieht mich sanft lächelnd an. „Niemand möchte mit mir hingehen und alleine kann ich doch nicht.“ „Wann ist das Konzert?“, will Marianne wissen. „Übermorgen.“ „Oh, gibt›s denn noch Tickets?“ „Ja klar, das wollen ausser unserer Tochter nicht viele hören“, mischt sich mein Vater wieder ein. Ich presse die Lippen zusammen und sehe ihn verärgert an. „Dann komme ich mit dir“, höre ich Marianne sagen. Ich kann nicht glauben, dass sie das gerade angeboten hat. Meinen Eltern geht es gleich. „Das musst du nicht Marianne“, sagt meine Mutter. „Doch das wird bestimmt schön, ich mag Konzerte in Kirchen und ich habe so etwas auch noch nie gehört.“ „Wirklich, ist das dein Ernst?!“ Ich könnte sie küssen, bin überglücklich.
Mit den Tickets hat man freie Platzwahl, also sind Marianne und ich recht früh da, um gute Plätze zu erwischen. In der 3. Reihe, auf der linken Seite des Ganges, setzen wir uns. Mein Herz rast, ich zittere, das Atmen fällt mir schwer und ich schwitze, wie immer, wenn ich unter fremde Menschen muss. Wenn ich mich auf Marianne konzentriere, geht es besser und ich kann verhindern, dass sich die Angst zu einer Panikattacke ausweitet.
Die Kirche ist recht schmucklos, eine kleine Bühne, ein Sonnenblumenstrauss und zwei Stühle stehen bereit, mehr nicht. Mir gefällt das, so kann man sich voll und ganz auf die Musik konzentrieren. Ich bin so gespannt auf diesen Liederabend, wie es gleich klingen wird. Die Kirche hat sich ganz gut gefüllt.
Der Ohrenschmaus beginnt!
Andreas Scholl und Andreas Martin betreten die Bühne, es geht los. Nun springt mir mein Herz nicht vor Angst bis zum Hals, sondern die Aufregung lässt meinen Puls in die Höhe schnellen. Wir haben super Plätze, perfekte Sicht und auch der Klang wird von hier aus bestimmt gut sein. Andreas Scholl ein zurückhaltender, sympathischer, grosser, junger Mann setzt sich auf den Stuhl in der Mitte der Bühne. Andreas Martin beginnt zu spielen und ich halte gespannt den Atem an. Der Gesang setzt ein. Gebannt schaue ich zu Andreas Scholl, vom ersten Moment an bin ich begeistert, werde magisch angezogen von diesem Klang. Die Töne tanzen in ihrer ganzen Schönheit zu mir herüber, mein Körper wiegt sich sachte zur Musik. Fasziniert beobachte ich die beiden Musiker, Andreas Scholl singt mit so viel Leichtigkeit und Innigkeit, dass ich glaube zu schweben. Seine bezaubernde Counrerstimme formt einen hellen, klaren Klang in einer samtig weichen Hülle. Ich spüre die Gänsehaut an meinem ganzen Körper. Laute und Stimme bilden eine perfekte Einheit, Volkslieder können so hinreissend klingen. Plötzlich sehe ich die Bühne nur noch verschwommen, Tränen fluten meinen Blick. Ich fühle, wie Glück, Zufriedenheit und eine überwältigende Dankbarkeit sich breitmachen. Kurz blitzt der Gedanke auf, dass ich dieses wundervolle Konzert beinahe verpasst hätte. Was für ein Privileg, dass ich nun doch dabei sein darf. Wie immer, wenn ich so ein Ereignis erleben kann, bin ich tief bewegt von der Großzügigkeit und dem Mut der Personen, die sich auf eine Bühne trauen und bereit sind, ihr beeindruckendes Talent, ihre Emotionen, ja ihr Innerstes mit anderen zu teilen.
Herzlichen Dank Andreas Scholl und Andreas Martin für dieses wunderbare, unvergessliche Konzert! Und auch dir Marianne, danke ich aus tiefstem Herzen, dass du es mir ermöglicht hast, dabei zu sein!
