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Orpheus‘ Magie in der Elbphilharmonie

Orpheus' Gesang wirkt magisch auf Tiere_Bild von Videoanimation

Teil 1 Ticketkauf

Der Verstand sucht, aber das Herz findet.
                                                            George Sand

Am Abend, des 5. September 2022 sitze ich frustriert vor meinem Notebook. Der Sommer ist fast vorbei, in der nächsten Woche muss ich wieder mit dem Unterrichten anfangen und bin zeitlich weniger flexibel. Normalerweise mache ich mit meinen Eltern während der Sommermonate ein paar Tagesausflüge, kleine Auszeiten, um Energie zu tanken und Neues zu entdecken. Doch diesen Sommer fiel unsere Tradition aus. Mein Vater erkrankte kurz vor Ostern, hatte plötzlich starke Schmerzen und schwerwiegende Einschränkungen, aber kein Arzt konnte bisher herausfinden, was ihm fehlt. Die vergangenen Monate waren entsprechend stressig und belastend, die Sorge um meinen Vater und die Hilflosigkeit lähmen und deprimieren mich. Meine eigenen Probleme verstärken sich durch diese schwierige Situation.
Die Decke fällt mir auf den Kopf, ich halte es nicht mehr aus, brauche dringend ein schönes Erlebnis, aber was und wie?

Konzertprogramme durchzustöbern hebt vielleicht die Stimmung

Planlos surfe ich im Internet. Ich klicke mich durch diverse Seiten, betrachte Bilder von Orten, die ich so gerne mal sehen würde. Spontan verfeinere ich die Suche, ich möchte mir Seiten von Konzert- und Opernhäusern ansehen, die ich am liebsten als Nächstes besuchen würde, na ja, wenn da die Phobien und das knappe Budget nicht wären. Aber einfach mal gucken kostet nichts und ich muss mich physisch nicht vom Fleck bewegen. In den Programmen stöbern und ein bisschen träumen, das holt mich vielleicht aus meinem Tief heraus. Ich lande bei der Elbphilharmonie und scrolle seufzend durch die Konzertliste. Oh wie schön, das würde ich gerne hören; ah, das klingt bestimmt toll.
Ich bin auf der Liste in der ersten Oktoberwoche angekommen. Boom! Mein Frustpegel schiesst in die Höhe. Jakub Józef Orliński wird am 5. Oktober Glucks „Orfeo“ singen. Ich spüre einen Stich im Herzen, jetzt bin ich noch deprimierter als vorher. Der polnische Sänger gehört zu einem meiner liebsten Countertenören und damit nicht genug, nein, ich wollte ihn eigentlich diesen Sommer am Verbier Festival hören/sehen, doch wegen der besagten Familiensituation war auch das nicht möglich.

Ein Traum zum Greifen nah

Um nicht weiter Salz in die Wunde zu streuen, will ich schnell weiter, scrolle nach unten, doch als Jakub Józef Orlińskis Bild schon fast vom Screen verschwunden ist, entdecke ich rechts ein Feld, auf dem „Tickets“ steht. Ohne zu überlegen, klicke ich drauf und bin ganz irritiert, als sich der Saalplan öffnet. Das Konzert ist in einem Monat und es gibt noch Tickets? Das ist unmöglich, in der Elbphilharmonie kriegt man so kurzfristig nichts für den grossen Saal. Ich gehe zurück und schaue mir den Konzerteintrag nochmals an: 5. Oktober, Elbphilharmonie grosser Saal, Gluck: Orfeo ed Euridice/Thomas Hengelbrock und ein Foto von Jakub Józef Orliński. Bin ich im Jahr verrutscht? Nein, da steht es in fettgedruckten Buchstaben: 5. Oktober 2022 und unten „Tickets“. Vorsichtig klicke ich nochmals auf das Feld, während ich den Atem anhalte. Wieder ploppt der Saalplan auf, mein Herz hämmert gegen meine Brust. Ich starre ungläubig auf den Bildschirm, traue mich nicht, mich zu bewegen. Da sind bunte Punkte, die freie Plätze markieren. Zugegeben, es sind wenige, aber vereinzelt, in verschiedenen Kategorien, gibt es scheinbar noch Tickets. Das ist ein Scherz, oder habe ich Halluzinationen? In meinem Kopf rauscht es, mein Herz schlägt nicht nur kräftiger, sondern nun auch schneller. Ich vergrössere den Saalplan, tatsächlich ein paar wenige bunte Punkte, eindeutig. Mit zitternder Hand bewege ich den Cursor zu einem der vermeintlich freien Plätze in der 1. Kategorie. Ich bin neugierig, was das kosten würde. Ach herrje, das ist viel Geld für mich, im Sommer habe ich meist kein Einkommen, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich sogar mit mehr gerechnet.

Muss ich mich von diesem Traum verabschieden?

82 Euro, ich fixiere, immer noch total verblüfft, diesen gelben Punkt. Im Fernsehen habe ich damals die Eröffnung der Elphi mitverfolgt und eine Dokumentation über die besondere Akustik des grossen Saals gesehen. Ich stand auch schon vor diesem besonderen Gebäude, da hätte es bereits fertig sein sollen, aber der Bau verzögerte sich um mehrere Jahre und ich war damals sehr enttäuscht, dass ich mir die Elbphilharmonie noch nicht von innen ansehen konnte.
Jakub Józef Orliński in dem aussergewöhnlichen Konzertsaal live singen zu hören, das wäre fantastisch. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, ihn auf der Bühne zu erleben, jedes mal kam etwas dazwischen oder ich konnte das nötige Geld nicht aufbringen. Sehnsüchtig betrachte ich den Saalplan und höre in Gedanken „Che farò senza Euridice“, Orfeos wohl bekannteste Arie in Glucks Oper.
Die Hansestadt Hamburg ist aber fast 700km Luftlinie von Basel entfernt. Es ist eine der Städte, in denen ich studiert habe, und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie schwierig die Reise von Ort zu Ort für mich war. In meiner momentanen Verfassung ist das unmöglich, da komme ich nicht hin. Für meinen Geldbeutel wäre es ebenfalls eine grosse Belastung, denn ich müsste nicht nur das Ticket, sondern auch Reise und Unterkunft bezahlen. Mein Verstand hat es, nüchtern betrachtet, schnell erfasst, das ist aus mehreren Gründen nicht realisierbar.

Gefühle sind stärker als die Vernunft

Konzertticket für Gluckoper Orfeo ed Euridice in Elbphilharmonie

Mein musiksüchtiges Herz und meine kulturhungrige Seele sehen das anders. Wie in Trance wähle ich diesen Platz auf Etage 15 im Bereich K für 82 Euro aus. Wenn schon Elbphilharmonie, dann auch auf einem guten Platz, da ist die Akustik vermutlich überragend. Ohne den Blick vom Screen zu lösen, greife ich nach meinem Portemonnaie, ich brauche meine Kreditkarte. Ich spüre leichte Übelkeit aufkommen, mein Puls steigt, ich ignoriere es.
Eintritt in die Elphi gesichert, hurra! Jetzt muss ich irgendwie dahin kommen. Es fühlt sich an, als wäre ich von dichtem Nebel umgeben. Mein Gehirn versucht, zu meinem Körper durchzudringen, ohne Erfolg. Frust und Trauer, Sehnsucht und Trotz sind stärker, sie schliessen die Ratio aus. Gibt es einen Nachtzug nach Hamburg? Wenn ja, dann ist dieser, nur vier Wochen vor Konzertbeginn, sicher ausgebucht. Meine Suche spuckt kein positives Ergebnis aus. Mist, tagsüber kann ich nicht stundenlang im Zug sitzen, vor allem nicht in Deutschland, nicht, wenn ich alleine reise, da stürze ich mich spätestens nach zwei Stunden auf die Notbremse. Leise schleicht sich Panik an, meine Beine zappeln nervös. Doch ich habe scheinbar den Selbstzerstörungsmodus aktiviert, barsch schiebe ich diese wohlbekannten Gefühle zur Seite. Der dichte Nebel hüllt mein Herz und meine Seele in ein Vakuum, ich starre auf den Bildschirm und habe nur noch eine Mission, diesen Konzertbesuch wahrwerden zu lassen. Die Vernunft muss von aussen machtlos zusehen, wie ich nun einen Flug buchen will. Zu dieser Zeit sind Schulferien in Basel, das wird teuer, falls noch Plätze verfügbar sind. Oh, noch wenige Tickets und auch günstiger als erwartet, läuft! So eine wahnsinnige Aktion in einem derart rasanten Tempo, das wird langsam auch meiner Seele zu viel. Sie hat das Bedürfnis, sich den gewohnten Gefühlen zuzuwenden: Resignation und Angst. Mein Körper lässt das nicht zu, meine Wangen glühen, die Hände zittern, hochkonzentriert, aber wie im Fieberwahn, springe ich zum nächsten Punkt, Unterkunft.

Don’t stop me now!

Wieder mahnt die Vernunft: „Du kannst nicht durch die Stadt, vom Hotel zum Konzert, das ist zu viel, vergiss es, wie willst du unter diesem Stress die Aufführung geniessen?“ Richtig, das funktioniert nicht, aber die Elbphilharmonie hat ein Hotel. Klick, klick, der Cursor flitzt über die Webseiten. Das Atmen fällt mir schwer, mir ist schwindlig, mein Puls rast. Trotzig, mit leichtem Ärger schiebe ich diese Gefühle zur Seite, mir reicht’s, ich habe es so satt, immer diese Einschränkung, ständig eingesperrt sein, nur Sorgen, Angst, Traurigkeit, ich brauche einen schönen Moment, etwas Besonderes. Und wie wahrscheinlich ist es, dass ich so kurzfristig eine Konzertkarte kriege und ein Flugticket zur Ferienzeit, wenn das kein Zeichen ist! Ich aktiviere meine innere Jukebox und ein Lächeln huscht über mein Gesicht, denn Freddy Mercury singt: „Don’t stop me now. I’m having such a good time, I’m having a ball. Don’t stop me now. … Yes, I’m having a good time, I don’t wanna stop at all, yeah!“ Nun schlage ich innerlich Purzelbäume. Ich finde ein freies Zimmer, wieder kommt die Kreditkarte zum Einsatz. Geschafft! Ich sitze mit meinem Notebook in einer Blase und blende alles aus. Es sind nur noch Funktionen aktiv, die ich für die Realisierung dieses Traums brauche. Körper in Ausnahmesituationen fahren alles Unnötige runter, man könnte meinen, ich besteige gerade den Mount Everest. Erschöpft, aber mit einer gewissen Zufriedenheit lehne ich mich auf dem Stuhl zurück, verstehe jedoch gar nicht so recht, was anstrengend war. Noch nicht.

Böses Erwachen

Die Buchungsbestätigungen kommen rein, eine nach der anderen, ding, ding, ding. Als ich diese öffne, wird mir schlagartig klar, was ich in den letzten 15 Minuten angestellt habe. Entsetzt lese ich die E-Mails. Easyjet: Hallo Birgit, hier sind die Detailinformationen zur Ihrer Buchung. Elbphilharmonie: Sie haben Ihren Kauf erfolgreich abgeschlossen. Westin Hotel: Ihre Buchung ist jetzt bestätigt.
Nein!!! Was habe ich getan?! Die rosa Blase löst sich auf, die Nebelwolke, auf der ich gebettet war, hält mich nicht mehr, ich falle hart auf den Boden der Realität. Unbarmherzig grell, bohren sich die Bestätigungsmails in mein Bewusstsein. Ich habe den Verstand verloren, ich bin völlig irre! Mir wird ganz komisch, alles dreht sich, mein Magen krampft sich zusammen, nun kann sich die Panik doch durchsetzen. Genüsslich kostet sie ihren Sieg aus.

Sind Jakub Józef Orliński und die Elbphilharmonie das wirklich wert?

Ich schnappe nach Luft, in meinem Kopf pulsiert es, ich zittere und schwitze. Fassungslos starre ich auf den Screen: Nein, nein, das darf nicht wahrsein, diese Zahlen, das kann nicht stimmen, das ist eine Katastrophe! Welcher Dämon hat mich da geritten?! Mir ist speiübel. Panisch versuche ich, die Zahlen zu überschlagen, wie viel ist das? Mit dieser Angst kann ich mich nicht konzentrieren, ich nehme mein Smartphone und tippe die Beträge ein: Zwei Monatslöhne?! Verdammte Sch… Ich verdiene sehr wenig, entsprechend schnell ist ein Limit erreicht. Noch nie in meinem Leben habe ich mein Konto überzogen und ich werde ganz bestimmt nicht heute damit anfangen. Was ist los mit mir, gestörte Verzweiflungstat, oder wie nennt sich das? Schnell, ich muss meinen Kontostand checken, abzüglich der Fixkosten und diesem spontanen Irrsinn … puh, ganz knapp nicht im Minus. Ich sacke auf dem Stuhl zusammen, Tränen kullern über meine glühenden Wangen, schockiert schüttle ich den Kopf, was habe ich mir dabei gedacht? Ach ja richtig, Verstand mal kurz ausgeschaltet. Sind Jakub Józef Orliński und der grosse Saal der Elbphilharmonie das wirklich wert? Doch ich kann keinen klaren Gedanken fassen, bin wie erstarrt, weil mir plötzlich zwei Dinge klar werden: Mir geht es gar nicht gut, und ich habe in diesem Zustand tatsächlich eine, für mich, sündhaft teure Reise nach Hamburg, mit Konzertbesuch gebucht.

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