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Orpheus‘ Magie in der Elbphilharmonie

Orpheus' Gesang wirkt magisch auf Tiere_Bild von Videoanimation

Teil 2 Katastrophe oder Grund zur Freude?

Der Mensch in uns sagt: zahl’ freiwillig deine Schuld an die fremde Not, leide mit alles Leiden, versag dir die Freude! Und das Leben befiehlt: gib dich hin an jede Freude, sie ist deiner Seele Brot und Blut.
                                                                                                                                                Stefan Zweig

Ich bin sehr emotional, oft spontan und natürlich, wenn es um meine Ängste geht, irrational. Doch ich bin auch sehr verantwortungsbewusst und zuverlässig, ich bezahle immer pünktlich meine Rechnungen, vergesse nie Termine und bin pünktlich vor Ort. Ich halte mich an Zusagen oder Versprechen, die ich mache, ganz selten, wenn es mir gar nicht gut geht, kann es passieren, dass ich etwas durcheinanderbringe. Alle, die mich kennen, wissen, auf mich kann man sich verlassen, i.d.R. ungeachtet meiner Probleme. Spontanbuchungen in dieser Grössenordnung sehen mir nicht ähnlich, deshalb bin ich so erschrocken, stehe unter Schock und darum ist klar, dass ich in einer gewaltigen Krise stecke.
Die Euphorie über meine Glückssträhne ist gänzlich verflogen. Ich schalte das Notebook aus und mache mich, immer noch vollkommen erschöpft, fertig um schlafen zu gehen. Ein Schutzmechanismus setzt ein: Als ich am nächsten Morgen aufstehe, denke ich nicht an die Konzertreise nach Hamburg, alles, was damit zu tun hat, ist ausgeblendet. Dieser Zustand hält eine Woche an, dann erhalte ich von Easyjet eine Mail, Vorschläge für meinen Aufenthalt. Ich kriege wieder einen riesen Schrecken, das habe ich total verdrängt. Erneute Fassungslosigkeit macht sich breit, meine Brust wird eng, ich kriege kaum Luft und fange an zu weinen. Wie konnte ich das nur tun?! Doch jetzt lässt es sich nicht mehr ändern. Ich habe so viel Geld ausgegeben, jetzt muss ich das auch durchziehen, aber wie?!? Wie um alles in der Welt soll ich, in diesem Zustand, alleine nach Hamburg kommen? Ich bin verzweifelt und aus dem leisen Weinen wird ein heftiger Heulkrampf, mein ganzer Körper wird durchgeschüttelt.

Auf das Positive konzentrieren

Gegen Ende des Tages versuche ich meine Gedanken umzulenken und etwas Abstand zu gewinnen, versuche es aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ja, es sieht mir nicht ähnlich, so etwas zu tun. Ich habe nahezu mein ganzes Geld auf dem Konto innerhalb eineinhalb Stunden ausgegeben, für ein Konzertticket mit Hotelaufenthalt und An- und Abreise, das ist mehr als unvernünftig. Andererseits geht es mir seit längerem nicht gut und seit einigen Monaten ist es extrem, den gesamten Sommer war ich wieder einmal gezwungen, über meine Belastungsgrenzen zu gehen. So betrachtet, ist es eigentlich verständlich, dass ich dringend raus muss aus diesem Hamsterrad, dass ich ein schönes Erlebnis brauche, dass ich mir etwas gönnen möchte. Ok, etwas gönnen und gleich alles auf den Kopf hauen, ja, da habe ich übers Ziel hinaus geschossen. Es ist aber die Elbphilharmonie, der grosse Saal der Elbphilharmonie, der ständig ausverkauft ist, besonders, wenn dort Publikumslieblinge auftreten. Ich merke, ganz tief in meinem Innern, wie sehr ich mich darüber freue, oder besser gesagt, darüber freuen möchte und aufgeregt bin, dass ich tatsächlich ein Ticket gekriegt habe. Doch das schlechte Gewissen droht als dichte schwarze Wolke über dieser verborgenen Freude, so dass sich Fröhlichkeit und Begeisterung ganz schnell wieder verstecken. Und dann ist da die Angst: Die Reise, die nötig ist, um in den Genuss des Konzerts zu kommen, überfordert mich, löst Panik aus. Und trotzdem, wenn ich daran denke, wie ich zum Ticket und allem anderen gekommen bin, das ist verrückt, surreal und birgt eine gewisse Faszination. In Gedanken sehe ich es wieder vor mir: Ohne jede Erwartung schaue ich mich auf der Webseite um, erwische zufällig ein Konzert, nicht nur mit Musikerinnen und Sängerinnen, die ich sehr mag, sondern das auch noch zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem ich nicht arbeiten muss, und das in gerade mal vier Wochen. So viele glückliche Zufälle, das kann man nicht ignorieren, oder? Meine Anspannung nimmt etwas ab, dieses Gedankenspiel scheint zu funktionieren. Also gut, weiter mit dem Versuch, mein Handeln zu erklären und als positive Fügung des Schicksals einzuordnen. Meine letzte Reise ist vier Jahre her, ich kann niemandem hier helfen, wenn ich nicht auch mal Pause mache, ohne Lichtblick werden die Ängste und Depressionen nicht weniger. Ein Tapetenwechsel tut sicher auch meiner Kreativität gut, die leidet sehr unter dem momentanen Zustand, ist aber ansonsten ein wichtiger Teil von mir. Ich seufze leise, ja, ich brauche das, ich löse mich aus der verkrampften Körperhaltung, ach, endlich wieder Livemusik geniessen und etwas Neues sehen, etwas Besonderes erleben. Ich kann besser atmen, meine Gesichtszüge entspannen sich, in meinem Innern spielen ein paar Arien aus Glucks Oper leise an, ich schliesse die Augen, mein Körper wiegt sich sachte zur Musik. Ich stehe wieder vor der Elbphilharmonie, damals, als sie noch nicht fertig war, ich mich gefragt habe, wie die Konzertsäle wohl aussehen. Ich blicke über den Hamburger Hafen. Die Musik gleitet übers Wasser, nicht den Rhein, sondern die Elbe. … Päng! Ich werde aus meinem Traum katapultiert und lande hart vor der nächsten Panikattacke. Hamburg, nicht Basel! Sofort verkrampfe ich wieder, ich presse die Zähne aufeinander, die Atmung wird flach, mein Herz hämmert gegen meine Brust, als wollte es mir sagen, wie kannst du es wagen, dich in so einer schwierigen Zeit davon zu stehlen und mit deinen mickrigen Einkünften in einem Luxushotel zu übernachten? Glücklicher Zufall, erfreulicher Wink des Schicksals? Pah! Die Angst bahnt sich aus dem dunklen Labyrinth meines Bauches ihren Weg zu meiner Brust, schnürt alles ein, verspottet mich: Du willst so in ein Flugzeug steigen, dich drei Tage allein in einer Grossstadt aufhalten, in einem noblen Hotel gastieren und dich in einen weltberühmten Konzertsaal setzen?! Die schönen Klänge, die warme Entspannung und der federleichte Traum müssen der Verzweiflung weichen.

Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freud

So geht das zwei Wochen lang, ein ständiges Auf und Ab: Das wird schön. Nein, das schaffe ich niemals. Du darfst das nicht. Doch du brauchst das. Meist überwiegt die Sorge, die Angst, das Gefühl einen grossen Fehler gemacht zu haben, das nicht verdient zu haben.
Erst 20 Tage nach dem ereignisreichen Abend, erzähle ich einer Freundin, mit sehr schlechtem Gewissen, von dieser Frustbuchung. Einen Tag später einer zweiten, nach und nach beichte ich all meinen Freundinnen meine Reisepläne. Sie sind sich alle einig, die Reaktionen fallen, zu meiner grossen Überraschung, alle gleich aus: „Das ist super, du bist so mutig! Toll, dass du dich das traust! Das wird grossartig, du wirst sehen. Das hast du verdient, geniess das Konzert, lass es dir gutgehen. Wir freuen uns schon auf die Fotos von der Elbphilharmonie.“ Das hatte ich nicht erwartet, nicht eine erklärt mich für verrückt und findet, dieser Luxus sei Wahnsinn und die Reise, mit meinen Problemen, ohnehin zum Scheitern verurteilt. Das hilft ein wenig, aber leider nicht genug, um die Panikattacken zu verhindern, sie häufen sich, je näher der Tag der Abreise rückt. Eine Freundin meint, ich solle meiner Intuition vertrauen und es mir erlauben, mich auf diese besondere Gelegenheit zu freuen.

Vinyl Ella in London live 1974

Ich bin in der Zwischenzeit dazu übergegangen, meine Stimmung nicht mit Musik in meinem Kopf, sondern mit Musik von Tonträgern positiv zu beeinflussen. Eines meiner liebsten Jazzalben, Ella in London, eine Liveaufnahme von 1974, schafft das immer wieder. Tanzend singe ich leise mit: „The way you wear your hat, the way you sip your tea …“. Doch ich konnte mich bisher noch nicht 100%ig überzeugen, dass die Reise und das Konzert eine gute Idee sind und ich es einfach nur geniessen soll.
Zwei Tage vor Abflug informiere ich meine Mutter. Sie ist sich mit meinen Freundinnen einig, doch einen Einwand hat sie: „Du gehst nicht um 3:45 Uhr allein im Dunkeln zum Bahnhof!“ Das Tram Richtung Bahnhof fährt so früh morgens noch nicht, also wollte ich zu Fuss zum Flughafenbus, der vom Bahnhof aus startet. Ich rolle mit den Augen: „Mich klaut schon keiner, wäre nur doof, wenn’s stark regnet.“ „Nein, ich verbiete es!“ Mir rutscht ein spöttisches Lachen heraus: „Ich habe dich nicht um Erlaubnis gefragt, ich wollte dich nur informieren.“ Was hat sie für ein Problem, knappe 1,5km früh morgens zu Fuss durch die Stadt, ist nun wirklich keine grosse Sache. Wenn sie wüsste, wie oft ich schon im Dunkeln diesen Weg gegangen bin, ausserdem habe ich schon einen Grossteil dessen, was da passieren kann, erlebt, daher finde ich, meine Mutter übertreibt masslos.
„Du nimmst ein Taxi zum Bahnhof, Ende der Diskussion!“ Hat sie nicht mitgekriegt, dass ich seit einer ganzen Weile volljährig bin? Ich fühle, wie Ärger in mir aufkommt, aber sie meint es ja nicht böse, also versuche ich, ihr meine Gründe zu erklären. „Mama, das Taxi ist auch für diese kurze Strecke sehr teuer, da kann ich mich gleich zum Flughafen fahren lassen.“ „Noch besser, ja, mach das.“ Ok, das Argument ging nach hinten los, ich muss mich deutlicher ausdrücken: „Ich bin mit dieser Reise schon absolut am finanziellen Limit, eigentlich weeeeeit drüber, eine Taxifahrt passt nicht ins Budget, selbst wenn ich die drei Tage in Hamburg komplett aufs Essen verzichte.“ „Gut, ich bezahle dir das Taxi.“ „Nein!“, seufzend versuche ich meiner Mutter klarzumachen, dass ich mit diesem Dilemma selbst klar kommen muss, da ich es mir schliesslich auch eingebrockt habe. „Wenn ich auf die verrückte Idee komme, mein Konto zu plündern, um Jakub Józef Orliński in der Elbphilharmonie singen zu hören, dann muss ich auch die Konsequenzen tragen und ausserdem weisst du genau, dass es für mich super stressig ist, ein Taxi zu bestellen und mich dann auch noch in diesem zum Flughafen fahren zu lassen.“

Combat de reines

Meine Mutter ist Walliserin, aus der Romandie. Sie hat viel Temperament und wenn sie glaubt, ihre Kinder beschützen zu müssen, kriegt man es regelrecht mit der Kampflust einer Eringer Kuhkönigin zu tun. Es wäre also besser, rechtzeitig aufzugeben, seine Niederlage einzugestehen, um sich keine Blessuren einzufangen. Für jeden anderen, doch ich bin die Tochter dieser „Reine“, und wegen der Herkunft meines Vaters fliessen zusätzlich noch 25% nordnorwegsiches Wikingerblut und 25% polnische Widerstandskraft durch meine Adern, was mich zu einer mehr als ernstzunehmenden Gegnerin macht, auch wenn ich, nicht nur äusserlich, ganz nach den Schweizer Verwandten komme. Bei Meinungsverschiedenheiten mit meiner Mutter habe ich aber schon unzählige Male, zwar jeweils nur kurz, meine Walkürengene und den slawischen Kampfgeist aktiviert, was sie natürlich weiss und deshalb die Strategie ändert; Mama packt die Mitleidskarte aus: „Willst du mich absichtlich leiden lassen? Ich werde die nächsten Tage nicht schlafen können und mir schreckliche Sorgen machen.“ Willkommen im Club, schiesst es mir für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, aber selbstverständlich wünsche ich es niemandem, so viel psychischen Stress zu haben, wie ich und da ich ihre Emotionen, wegen der Hochsensibilität, immer sehr stark spüre und mich diese gerade jetzt zusätzlich belasten, lenke ich ein, allerdings nicht, ohne ihr meinerseits noch einen Stoss mit den Hörnern zu verpassen: „Na schön, dir macht es offensichtlich nichts aus, dass ICH dann vor meiner Abreise mit Garantie nicht schlafen werde, weil nun ein riesiger Stressfaktor dazu gekommen ist.“ Meine Mutter zuckt mit den Schultern und lächelt zufrieden. Sie geniesst ihren Sieg, ihre Tochter ist sicher, die paar zusätzlichen Panikattacken meinerseits fallen für Mama nicht ins Gewicht, sie denkt vermutlich nur: Mission erfüllt. „Gib mir Bescheid, wenn du das Taxi bestellt hast.“

Zieh es durch!

Diese Bemerkung löst zwei Impulse aus: Die nordische Kriegerin in mir schwingt ihr Schwert und möchte zum Schlag ausholen, doch wird gleich vom Herzen der mitfühlenden Tochter gebremst. Mein traumatisiertes Gehirn stuft diese Aufgabe sofort wieder als unüberwindbare Hürde ein und versetzt meinen Körper erneut in den Panikmodus. Ich werde telefonieren müssen, um ein Taxi zu bestellen, was für mich entsetzlich ist und dann werde ich mindestens 15 Minuten lang gezwungen sein, in einem Taxi zu sitzen. Das ist für mich schwieriger als Bus fahren, weil es noch persönlicher ist, als Fahrgast ist man in einem Taxi sichtbarer, nicht so anonym, wie in einem grossen Bus. Mein Puls schiesst in die Höhe, mir wird übel. Wie können die anderen nur sagen, diese Reise sei eine gute Idee? Es wird schlimmer, mir scheint, als könne ich zwischen den einzelnen Panikattacken der vergangenen Wochen kaum noch Luft holen. Hotel und Konzert müssen eine absolute Sensation sein, damit sich dieser Stress und die Panikattacken beinahe in Dauerschleife auch lohnen. Meine Beine zittern, ich muss mich setzen, in meinem Kopf rauscht und pfeift es, Verzweiflung und Verachtung bahnen sich ihren Weg zu meinem Herze. Erschöpft und mit den Tränen kämpfend verabschiede ich mich von meiner Mutter. Auf dem Weg nach Hause gehen mir die Reaktionen meiner Freundinnen durch den Kopf. Trotz und Wut über meine Erkrankung flammen auf, ich will nicht so sein. Ich beschliesse, dass die anderen recht haben und ich alles versuchen werde, um die Reise durchzuziehen, es irgendwie zu schaffen. Das Konzert, die Möglichkeit Jakub Józef Orliński in der Elbphilharmonie singen zu hören, wird die Mühe Wert sein! Und wenn ich erst einmal dort bin, werde ich meine Begeisterung zulassen.

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