
Teil 5 Das Konzert
Zwischen den Schwingungen der singenden Stimme und dem Pochen des vernehmenden Herzens liegt das Geheimnis des Gesangs.
Khalil Gibran

Der Blick über die Stadt, die HafenCity und Teile des Hamburger Hafens ist spektakulär. Ich muss mich erst an die Höhe gewöhnen, direkt am raumhohen Fenster zu stehen, ruft meine Akrophobie auf den Plan, doch wenn ich nicht nach unten schaue und ein wenig Abstand halte, kann ich das Panorama entspannt geniessen. Es tut gut, endlich allein zu sein. Ich mache rasch ein paar Fotos, die ich an die Lieben daheim schicke, mit einem kurzen Bericht über meine chaotische Liftfahrt. Minutenlang lasse ich meinen Blick übers Wasser und die Stadt schweifen, dann richte ich mich im Zimmer ein. Es kommen begeisterte Rückmeldungen, alle freuen sich, dass ich so ein wunderschönes Zimmer habe und nun hoffentlich die verbleibenden zwei Tage in Hamburg geniessen kann. Frisch geduscht setze ich mich in gemütlichen Sportklamotten aufs Bett und trinke viel Wasser und Tee. Dieser Tag hat mich sehr gefordert, ich bin fix und fertig. Mein Rücken muss in die Horizontale, also liege ich um 19:00 Uhr im Bett und höre noch ein paar Podcastsendungen und Musik, bis mir gegen 20:30 Uhr nach 38 Stunden ohne Schlaf, endgültig die Augen zufallen.
Start in den grossen Tag
Eigentlich hatte ich vor, morgens etwas länger liegen zu bleiben, damit ich top fit das Konzert erleben kann, aber um 7 Uhr halte ich es nicht mehr aus, eine angenehme Schlafposition zu finden war schwierig. Ich dehne mich eine Viertelstunde lang und stehe dann auf. Mein Bauch beschwert sich lautstark, denn seit 48 Stunden hat er nichts zu Essen gekriegt. Ich mache mir eine Tasse Tee und mein Müsli, setze mich aufs Bett und geniesse dieses lang ersehnte Frühstück, während die Sonne über dem Hafen aufgeht. Jetzt geht’s mir besser, bin nach dem Essen aber wieder ein bisschen schläfrig, der gestrige Tag sitzt mir immer weiterhin in den Knochen. Ich gönne mir nochmals eine Pause, lese und höre Radio, mache mich dann in aller Ruhe fertig, um ein paar Stunden in der Stadt zu verbringen. Das wird eine Herausforderung, mein Puls beschleunigt merklich.
Um 14 Uhr komme ich zurück aufs Zimmer. Ich bin erschlagen, es war viel los in der Stadt bei dem schönen Wetter. Ich habe es nach langem Zögern doch noch geschafft, mir ein kleines Mittagessen zu organisieren, eine Piadina mit gegrilltem Gemüse. Diese Stunden ausserhalb des Hotels haben mich Kraft und Nerven gekostet. Bevor ich hoch zum Zimmer bin, habe ich mir noch die Plaza angesehen. Da aber sehr viel los war, bin ich nicht lange geblieben, sondern habe nur eine kleine Runde gedreht. Bis zum Konzert muss ich allein sein, ich brauche Ruhe, um dann hoffentlich in richtig guter Verfassung die konzertante Aufführung von Glucks Orfeo ed Euridice geniessen zu können. In einer Info-Mail der Elbphilharmonie wurde mir zwei Tage zuvor mitgeteilt, dass es mit Thomas Hengelbrock um 19 Uhr ein Einführungsgespräch mit Hintergrundinfos und Anekdoten zum Konzert geben wird. Ich kenne die Oper zwar recht gut, finde es aber oft unterhaltsam und spannend, ein paar Anekdoten vorab zu hören. Meistens kommen nicht so viele Personen zu den Einführungen, so kann ich vielleicht etwas gelassener zu meinem Platz als später im Gewühl, wenn alle Besucher*innen eintreffen, denn das Konzert ist natürlich mittlerweile ausverkauft. Der Plan ist also gegen 18:30 Uhr fertig zu sein, damit ich mich langsam auf den Weg zum grossen Ereignis machen kann.
Easy entspannen? Schön wär’s …
Nach dem Mittagessen verschicke ich wieder ein paar Nachrichten an Freunde und Familie, die wissen wollen, wie es läuft, und schreibe noch einige dringende E-Mails. Den Rest des Nachmittags möchte ich ganz entspannt verbringen. Ich setze mich aufs Sofa am Fenster und schaue mir das Treiben im Hafen an. Ich lese etwas und höre Musik, bevor ich mit den Vorbereitungen anfange, wie z.B. den bei mir leider i.d.R. vergeblichen Verschönerungsversuchen. Irgendwie hoffe ich wohl trotzdem, dass es einmal etwas bringt. Na ja, durch die steife Hamburger Brise haben meine Locken starke Ähnlichkeit mit einem zerzausten Besen oder einem geplünderten Vogelnest, also dürfte das Haare waschen doch eine minimale optische Verbesserung mit sich bringen. Kurz nach 17 Uhr komme ich aus der Dusche und widme mich wieder meinem Buch mit ein paar schönen Klängen im Hintergrund. Als ich ca. eine Dreiviertelstunde später wieder ins Bad gehe, überfällt mich plötzlich eine Panikattacke, sie kommt aus heiterem Himmel. Ich verstehe nicht, was los ist, wieso passiert das jetzt? Die Attacke ist lang und heftig, ich muss mich im Bad auf den Boden setzen. Verdammt, was soll das? Du freust dich doch auf das Konzert, deshalb bist du hier. Erschöpft stehe ich auf, um mir die Zähne zu putzen, doch als ich, am Waschbecken stehend, kurz in den Spiegel sehe, kommt die Nächste. Alles dreht sich, mir ist übel, ich kriege keine Luft. Mit einem Mal scheint es mir vollkommen unmöglich das Zimmer zu verlassen und in den Konzertsaal zu gehen. Es dominiert nur noch ein Gedanke: So hässlich, wie ich bin, darf ich nicht unter die Leute. Im grossen Saal werden ca. 2100 Besucher*innen sein, natürlich sieht mich nur ein Bruchteil, aber links und rechts von mir, vor und hinter mir werden Leute sitzen, die sind sehr nah, die sehen mich zwangsläufig; dann sind da die Personen, die das Ticket kontrollieren etc. Weinend wird mein ganzer Körper durchgeschüttelt, ich zittere und kauere mich in die hinterste Ecke des Bads. Diese Panikattacke kommt mir endlos vor, ich schnappe immer wieder nach Luft, mein Herz schlägt so stark gegen meine Brust, dass es weh tut. Stark mitgenommen, rapple ich mich wieder auf und verpasse meinem glühenden Gesicht eine Ladung kaltes Wasser. Wie spät ist es?! Habe ich evtl. schon alles verpasst?
Ein Notfallplan muss her
Ich eile ins Zimmer zu meinem Smartphone, es ist 18:30 Uhr. Mist! Die Einführung kann ich vergessen, bis in 10 Minuten habe ich mich nicht im Griff. Also neues Ziel, bis in einer Stunde muss ich wieder funktionieren. Es kann ja wohl nicht sein, dass ich wegen dieser verfluchten Angsterkrankung all das umsonst auf mich genommen habe! Ich koche vor Wut, meine Selbstverachtung ist in diesem Moment unermesslich gross. Diese Abscheu mir und meinen Unzulänglichkeiten gegenüber ist nur leider nicht hilfreich, wenn es darum geht, meinen Zustand zu verbessern und eine Situation zu schaffen, in der ich in der Lage bin, das Konzert zu besuchen. Ich starre auf die Uhr meines Telefons, plötzlich rennt die Zeit, ich bin massiv unter Druck, was die nächste Panikattacke auslöst. Verzweifelt sitze ich auf dem Bett und warte weinend und zittern darauf, dass sich mein Puls und meine Atmung wieder normalisieren. Ok, denk nach, los streng dich an, was kannst du tun, um das noch hinzukriegen? Mir ist schwindlig, ich kann kaum stehen, inzwischen ist es 19:05 Uhr. Mein Gesicht gleicht einem Leuchtturm, das wird auch meine schwarze Kleidung nicht kaschieren und erfahrungsgemäss dauert es bei mir deutlich länger, als 25 Minuten, bis ich wieder eine halbwegs normale Gesichtsfarbe habe. Das ist so peinlich! Allen Besucher*innen wird empfohlen, 30 Minuten vor Veranstaltungsbeginn auf der Plaza zu sein. Wie schön wäre es jetzt, Harry Potters Tarnumhang zu haben.
Ich sitze einige Minuten kraftlos auf dem Bett, überlege angestrengt, wie ich es schaffen soll, zum Konzert zu gehen. Die Vorstellung, auf dem Weg zum Konzert oder dann im Konzertsaal eine Panikattacke zu kriegen bereitet mir grosse Sorgen. Doch allen Zuhause sagen zu müssen, dass meine gestörte Psyche mich daran gehindert hat, das Konzert zu besuchen, ist ebenfalls unvorstellbar. Deprimiert stehe ich auf, es ist 19:17 Uhr, mir bleiben nur noch wenige Minuten, denn zu spät kommen ist absolut keine Option. Ich gebe mir grosse Mühe, mich aufrecht hinzustellen, atme tief ein und wieder aus: So es reicht jetzt, du ziehst das durch, egal wie! Du siehst scheisse aus, na und, das ist nichts Neues, daran solltest du dich langsam gewöhnt haben. Dein Therapeut sagt immer, hier kennt dich kein Mensch und du siehst die alle nie wieder, also kann es dir vollkommen egal sein, ob die sich durch dein Erscheinungsbild gestört fühlen. Jeder stört auf irgendeine Weise, irgendwann, das darfst du auch. So richtig funktioniert diese innere Motivationsrede nicht, weil ich mir kein Wort glaube. Wem versuche ich hier etwas vorzumachen? Aber eines weiss ich, ich habe gestern Blut und Wasser geschwitzt, um diesen Abend miterleben zu können. Ich habe mein Konto geplündert, um das hier möglich zu machen, also bleibt mir gar nichts anderes übrig, als es durchzuziehen.
Los, rein in die Klamotten, schnapp dir die Handtasche und beweg deinen Arsch ins Konzert! Wut und Frustration kommen auf, ich schaue wieder auf die Uhr, jetzt muss ich richtig Gas geben, ich bin extrem unter Druck. Zum Konzertsaal ist es nicht weit, aber ich weiss nicht, wie lange ich brauche, bis ich an meinem Platz bin und ich brauche auch noch ein bisschen Zeit, um dort runterzufahren. Da ist er wieder, der altbekannte Schutzmechanismus, ich dissoziiere. Mein Körper führt alle Handlungen aus, während sich meine Seele ausserhalb meines Körpers eine Pause gönnt und diesen so nicht stört. Kurz bevor ich das Zimmer verlasse, brauche ich wieder alle Sinne vereint. Ein letzter Check, habe ich alles, was ich brauche? Ticket, Smartphone, Taschentücher, Schlüsselkarte. Es ist 19:26 Uhr, jetzt aber schnell. An der Tür greift meine stark zitternde Hand nach der Türfalle. Ich horche, ob jemand draussen auf dem Flur ist, höre niemanden und ziehe die Tür auf.
Déjà-vu: Fellini lässt grüssen
Mit angehaltenem Atem gehe ich schnell zum Fahrstuhl. Das Treppenhaus habe ich immer noch nicht entdeckt, wäre jetzt aber auch keine gute Alternative. Mit rasendem Puls drücke ich auf die Lifttaste. Nach einem kurzen Moment öffnet sich der mittlere Fahrstuhl. Ein elegant gekleidetes Paar steht drin. Ich warte, dass die beiden aussteigen, da sie von unten kamen. Sie sehen mich erwartungsvoll an. Ich bin verwirrt. „Wir müssen runter, wir haben uns verdrückt“, sagt der Herr. Was?! Nicht schon WIEDER! Ich bin verflucht, Fellinis groteske Situationskomik in Dauerschleife, das Universum hasst mich. Gerade als ich das Gefühl hatte, dass meine Gesichtsfarbe nicht aus einem Kilometer Entfernung als abnormal zu erkennen ist, spüre ich, wie meine Wangen an Temperatur zulegen. Mein Blick wird wässrig, nein, nicht jetzt! Das ist alles schon peinlich genug, los, Haltung und Gelassenheit vorspielen. Die Zeit rennt, ich habe keinen Nerv für Verzögerungen und ich will auch nicht unhöflich sein, indem ich auf den nächsten Fahrstuhl warte. Bei meinem sensationellen Glück sitzen die zwei im Konzert noch neben mir, denn es besteht für mich klein Zweifel, in dem Outfit, ohne Jacken und Mäntel, haben sie dasselbe Ziel wie ich. Also bin ich gezwungen, einzusteigen. Ich versuche, tief einzuatmen, strecke meinen Rücken durch, schreite in den Lift und ergebe mich meinem Schicksal. Unten angekommen, eile ich zur Drehtür, doch diesmal ist sie nicht offen, wie tagsüber. An ihr klebt ein Schild, man solle nur leicht drücken, was ich tue, doch sie bewegt sich keinen Meter. Die zwei aus dem Fahrstuhl sind jetzt hinter mir angekommen. Ich höre den Herrn sagen: „Ich glaube, sie müssen fest drücken. Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber das ist hier etwas schwierig.“ Grossartig, nächste Peinlichkeit, ich habe einen Lauf, die höheren Mächte verhöhnen mich wieder. Lacht nur, ihr Grausamen! Ich bin fest entschlossen, mir diesen Abend nicht mehr vermiesen zu lassen. Ich stemme mich gegen die Drehtür und siehe da, sie bewegt sich. Geschafft, was kommt als Nächstes?

Mit flotten Schritten gehe ich auf die Treppe zum grossen Saal zu. Es sind schon viele Leute unterwegs, ich versuche, mich ausschliesslich auf die Treppenstufen zu konzentrieren. Oben angekommen, steht Personal, das die Tickets kontrolliert. Ich frage nach der Richtung zu meinem Platz. „Hier links die Treppe rauf. Sie müssen zur 15. Etage“, sagt mir die junge Dame. „Dankeschön.“ Ich erklimme die erste Treppe, um mich herum gibt es immer mehr Leute, ich brauche etwas, auf das ich mich konzentrieren kann. Ein flüchtiger Blick nach vorne, oh da, perfekt! Kurz vor mir kämpft sich eine Gruppe junger Damen in viel zu hohen Schuhen die Treppe rauf. Sie tragen alle superkitschige Glitzerkleider in intensiven Farben, Rot, Royalblau, Pink. Ich muss unweigerlich an Diskokugeln denken, ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Sie tun mir ein bisschen leid, haben sich extra so chic gemacht – na ja, chic im klassischen Sinne ist vielleicht nicht der passende Ausdruck – sie haben sich aufgehübscht für diesen Anlass und wollten wohl auch auffallen, was ihnen, in dem Aufzug, definitiv gelingt. Doch die Schuhe haben sie nicht im Griff, oder die Treppe, je nachdem, die Kleider sind teilweise einfach zu eng und zu lang für die Stufen. Zwei der Mädels krallen sich mit ihren Kunstnägeln am Geländer fest, um so ihr Ziel zu erreichen. Ich überlege ganz kurz, ihnen zu sagen, das Sneaker zum Abendkleid, sehr stylisch aussehen können, aber das wäre ja vergeblich, sie haben in ihren kleinen Taschen offensichtlich keine dabei. Ich muss aber zugeben, dass man sich seinen Platz hier verdienen muss, es geht zahlreiche Treppen nach oben und ich bin froh, dass ich das nicht in Stilettos und Mermaid Dress tun muss.
Ziel erreicht

Endlich stehe ich vor meinem Eingang und komme zu meinem Platz, ohne mich zwischen anderen Besucherinnen durchquetschen zu müssen. Gut, ich bin hier, ich habe es geschafft. Ich lehne mich an meinen Platz und atme durch. Ich bin die Erste in meiner Reihe, sogar in diesem Block, so kann ich schnell ein paar Fotos machen für die Freundinnen, die auf den nächsten Bericht warten. Ich habe gute Sicht auf die Bühne, obwohl ich schon ziemlich weit oben bin, aber ja immer noch in der ersten Kategorie. Kurz nach mir kommt ein Hamburger Paar, das sich links von mir setzt. Sie scheinen auch das erste Mal hier zu sein, wir sprechen ein paar Sätze miteinander, aber langsam wächst meine Spannung und Vorfreude, ich möchte, dass es endlich losgeht, ich brauche dieses Highlight, das ich mir so hart erkämpft habe. Der Saal füllt sich immer mehr und ich jetzt wäre Musik nötig, um es auszuhalten, unter all diesen Leuten zu sitzen. Die Musikerinnen begeben sich auf ihre Plätze. Hochkonzentriert beobachte ich, was unten bei der Bühne passiert. Es geht los, Thomas Hengelbrock betritt den Saal, mit kerzengeradem Rücken, die Bühne fixierend, klatsche ich und kann den ersten Ton kaum erwarten. Wie wird das in diesem berühmten, viel gelobten Saal klingen?
Auf ins herrliche Reich der Musik
Das Balthasar-Neumann-Orchester spielt die mir so vertraute Sinfonia, welche Glucks Oper einleitet. Gespannt halte ich den Atem an, ich spüre, wie meine Arme und Beine vor Freude zittern, während die noch fröhlichen Klänge sich augenblicklich im ganzen Saal verteilen, von allen Seiten auf mich zu tanzen und mich in eine andere Welt entführen. Die Töne der Streichinstrumente heben mich hoch, mein Körper fühlt sich leicht an, wiegt sachte im Takt, während die Musik in ihn eindringt und sich von Kopf bis Fuss ausbreitet, jede Zelle stimuliert. Mir ist warm und kalt zugleich, an Armen und Beinen kitzelt mich die Gänsehaut. Die Sängerinnen des Chors haben sich über die ganze Bühne verteilt und das wild durcheinander, nicht wie sonst, nach Stimmlage sortiert. Da stehen Sopranistinnen neben Tenören, ich bin begeistert, das ist grossartig, so wird man erst recht jede einzelne Stimme der Chorsängerinnen heraushören. Ich rutsche ganz vor an die Stuhlkante, um meine Konzentration noch mehr zu erhöhen. Eine Tänzerin und Orfeo sind ebenfalls auf der Bühne, das bekannte musikalische Thema erklingt. Der Chor setzt ein: „Ah! se intorno a quest’urna funesta.“ Ein Schauer läuft mir über den Rücken, die Stimmen der Sänger*innen in diesem Saal, das ist überwältigend. Ich kann die Spannung kaum noch aushalten, denn ich weiss, nach dem ersten kurzen Satz des Chors, wird sofort die Stimme Jakub Józef Orlińskis erklingen, Orfeo wird den Namen seiner toten Frau Euridice klagend rufen.
Die Sage erzählt, die Musik von Orpheus, seine Lyra und seine Stimme, seien magisch gewesen, kein Lebewesen konnte sich dem entziehen, sogar Steine zerbrachen, wenn sie die Musik hörten.
Die magische Stimme erklingt
Musik ist für mich immer in irgendeiner Weise magisch, und so verzaubert mich dieses erste „Euridice!“, das Orfeo, in tiefer Trauer, von sich gibt, sofort. Orlińskis Stimme in diesem Saal, mit diesem Chor und diesem Orchester ist grandios, wie sie sich gegenseitig tragen, ineinander verschmelzen, berauscht mich. Die Töne fliessen, wie ein Lavastrom, durch meinen Körper, wohltuend und schmerzend zugleich. Jakub Józef Orliński setzt zur ersten grossen Arie Orfeos an, „Chiamo il mio ben cosi“. Leise tröpfeln ein paar Tränen über meine Wangen. Die schöne Sopranstimme Elena Galitskayas trällert von einem der oberen Stockwerke. Sehr lebhaft macht sie, als Amor, Orpheus ein verlockendes Angebot, die Götter haben sich von seinen Klageliedern ebenso berühren lassen, wie ich. Der Chor ist überzeugt, mit seiner einzigartigen Tonkunst, seiner unvergleichlichen Stimme und seiner tiefen Liebe zu Euridice, kann er nur ein Gott sein. Orfeo, auf dem Weg zu seiner Geliebten, bezirzt mit seinem Gesang die Furien. Wir sind schon bei der nächsten herrlichen Arie angekommen: „Deh! Placatevi con me.“ Mein Herz schwimmt auf einem Wildwasserstrom, es wird furios über die Wellen befördert, hüpft von einer Stromschnelle zur nächsten, freut sich über die Wasserspritzer, die der polnische Countertenor ihm verpasst, wenn er, in hinreissenden Koloraturen, „il mio barbaro dolor“ singt. Der Chor packt mich mit „Ah! quale incognito“. Es bringt meinen Atem zum stehen, das Crescendo rollt wild über mich hinweg, die Stimmen kreisen mich ein, werfen mich in die Luft, lassen mich aus schwindelerregender Höhe schnell nach unten fallen, wie auf einer Achterbahn. Mein Puls rast, doch schon werden die sanften Töne des „Ballo d’eroi ed eroine“ angeschlagen. Streicher- und Bläserklänge tanzen so bezaubernd im Elysium, dass meine Lippen nicht anders können, als verzückt zu lächeln. Mein Torso wiegt sich im Takt von Orfeos wundervollen Beschreibungen dieses himmlischen Ortes. Die Musik lässt die Vögel zwitschern, die Bäche murmeln und die Winde säuseln und trägt mich durch den ganzen Konzertsaal. Thomas Hengelbrock lässt sein Orchester eine wunderschöne Szenerie beschreiben, hell, bunt, freundlich, alle tanzen und sind glücklich.
Poltergeister in Abendgarderobe
Zwei Weibsbilder in Stöckelschuhen trampeln zum zweiten Mal quer über die oberste Ebene, wieder zu ihrem Platz, den sie kurz vorher gewechselt haben. Es macht einen Höllenlärm und ich bin masslos verärgert und entsetzt über dieses rücksichtslose Verhalten. Perlen vor die Säue, wenn sie auf den Laufsteg wollen, sollen sie woanders hingehen! Ich verstehe nicht, dass die Aufsichtspersonen die beiden nicht davon abhalten, zum wiederholten Mal quer über die Etage zu trampeln. Warum geht man zu einem Konzert, wenn man nicht zuhören möchte? Da spielt ein tolles Orchester und es singen grossartige Sänger*innen, teilen ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten und ihre Leidenschaft mit uns und diese Tussis haben nichts Besseres zu tun als das Parkett in einem fabelhaften Konzertsaal zu ruinieren. Am liebsten würde ich die beiden an ihren schlecht blondierten Haaren rausschleifen, bei so etwas werde ich zur Furie. Andere Leute würden sonst etwas dafür geben, dieses Konzert miterleben zu dürfen.
Die liebliche Stimme Euridices besänftigt mich
Orfeo hat seine Geliebte entdeckt. Euridice hat ihren grossen Auftritt und ich schlucke meinen Ärger runter und konzentriere mich wieder voll und ganz auf die Musik. Regula Mühlemann kann uns nun mit ihrer hellen, glanzvollen Stimme beglücken. Glänzend ist auch ihre Erscheinung, das Kleid mit Goldakzenten glitzert im Licht der Scheinwerfer. Ich muss unweigerlich lächeln bei diesem Anblick, denn Regula Mühemanns Robe passt perfekt zu ihrer Stimme, die sich in diesem herrlichen Konzertsaal wie schimmernde Perlenketten um die Balustraden der einzelnen Ränge legt. Über mehrere Szenen wird Euridice an der Liebe Orfeos zweifeln, sie wird ihr Herzblatt mit schillernden Koloraturen anflehen, sich ihr zuzuwenden. Ich fiebere mit dem Schicksal der beiden Liebenden mit, die Musik wechselt immer wieder, mein Herz hüpft, stolpert, hastet, mein Körper ist übersät von Gänsehaut, die Gefühle fliessen in heftigen Kaskaden von oben nach unten, von rechts nach links, das ist so aufregend! Wir nähern uns in schnellem Tempo der einen Arie, auf die bestimmt alle hier warten, die Arie, die alle mit dieser Oper verbinden, die schon einmal von ihr gehört haben. Orfeo konnte dem Flehen Euridices nicht länger standhalten und drehte sich um. Seine grosse Liebe stirbt erneut.

Und da ist es, Jakub Józef Orliński sagt die letzten beiden Worte, die vor diesem weltberühmten Klagelied stehen: „Son disperato!“ Ich setze mich aufrecht auf meinem Sitz hin, gebannt fixiere ich den jungen Countertenor und platze fast vor Nervosität, mein Herz ist vollkommen aus dem Rhythmus. Wie hält er selbst das nur aus, wie machen das all die Musikerinnen und Sängerinnen? Ich meine im ganzen Saal eine grosse Spannung zu spüren, da erklingt der erste Ton dieser bewegenden Arie. Mir wird schwindlig, so aufgeregt bin ich. Im 6. Takt wird Orlińskis atemberaubend schöne Stimme mit den magischen Worten „Che farò senza Euridice“ einsetzen. Als sein schmelzend warmer, betörender, voller Klang mit einem, über 1,5 Takte gehendes „Rispondi“ den Konzertsaal erfüllt, öffnen sich bei mir alle Schleusen. Tränen fliessen über mein Gesicht, Herzschlag und Atmung setzen aus, mein Herz schiesst einen stechenden Schmerz entlang meines linken Arms bis in die Spitze des Zeigefingers, meine Seele droht in einem glühenden Feuerstrom zu ertrinken. Was andere vielleicht als Beschreibung eines elenden Zustandes empfinden würden, ist in diesem Moment für mich das grösste Glück. Dieses Klangerlebnis fesselt jede einzelne meiner Zellen, nimmt erbarmungslos meine Seele und mein Herz gefangen, berauscht meine Sinne, bannt meine Emotionen. Diese konzertant aufgeführte Oper mit ihren eindrucksvollen Akteur*innen, in diesem grossartigen Konzertsaal, erregt mich bis in die letzte Haarspitze und erfüllt mich mit so tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit, dass ich meine oftmals kleine, dunkle, traurige Welt vollkommen vergesse. Musik, die ich live erleben darf, kann dies am besten.
Ende gut, alles gut
Das grosse Finale mit Happy End klingt an. Alle sind fröhlich, der Chor preist Amor. Die eher kurze Oper ist zu Ende. Ich bin etwas ausser Atem, die Achterbahn der Gefühle und das intensive physische Erlebnis sind jedes Mal etwas ganz besonderes, fordern mich aber auch sehr. Fasziniert und immer noch gefesselt vom Klang und der Atmosphäre, die die Musikerinnen und Sängerinnen geschaffen haben, blicke ich ein bisschen wehmütig zur Bühne. Schade, dass es schon vorbei ist. Ergriffen und unendlich dankbar applaudiere ich leidenschaftlich. Meine Begeisterung möchte mich aufspringen lassen, doch ich scheine den norddeutschen Block erwischt zu haben. Alle um mich herum klatschen, aber weder Jubelrufe, noch Trampeln, oder Standing Ovations zeigen sich hier um mich herum. Ich bin hin und her gerissen, möchte meiner Freude und meinem Respekt für die dargebotene Leistung Ausdruck verleihen, indem ich stehend bravo rufe, doch meine panische Angst auffallen zu können, bremst mich aus. In mir brennt ein heisses Feuer, doch umgeben von kühlen Köpfen, zügle ich, stark bedauernd, mein Temperament und mein Bedürfnis, meinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Also klatsche ich so fest und laut ich kann, mit höher erhobenen Händen und lasse meine Füsse vorsichtig auf dem Parkett trippeln, um wenigstens so meiner Verzückung Raum geben zu können. Ein paar Tränen bahnen sich wieder ihren Weg über meine erhitzten Wangen.
Es war verrückt und schliesslich auch ein ziemlicher Kampf, um hierher zu kommen und diese musikalische Darbietung miterleben zu können, aber ich bin glücklich und dankbar, dass ich es gewagt, mich irgendwie bis hierhin durchgeschlagen habe. Was für ein Geschenk, ein grosses Privileg, so etwas, an so einem schönen Ort, sehen und hören zu dürfen.
Ich danke allen Beteiligten aus tiefstem Herzen, für dieses unvergesslich schöne musikalisch magische Erlebnis!
Danke Jakub Józef Orliński, Regula Mühlemann, Elena Galitskaya, Thomas Hengelbrock und danke dem Balthasar-Neumann-Chor und Balthasar-Neumann-Orchester! Danke euch allen, die ihr mich ermutigt habt, es zu wagen, es wirklich durchzuziehen und dass ihr mitgefiebert und euch für mich gefreut habt. Merci viu, viu mau!
